Oberhalb von Patras, mit Blick aufs griechische Festland jenseits des Golfs von Korinth und nicht leicht zu finden, liegt bei Voudeni ein über dreitausend Jahre alter Friedhof. Mehr als 80 Gräber befinden sich hier, und wer für wenig Geld eine Eintrittskarte erwirbt, erfährt vom geradezu bizarr lebendigen, braungebrannten Kassierer, dass der Rundgang hinter der Schautafel bei den Toiletten beginnt, entgegen dem Uhrzeigersinn zu erfolgen hat und dass Grab Nummer 5 mit einer Tür verschlossen ist, um Kinder daran zu hindern, beim kindskopfmäßigen Toben auf der Totenstätte zufällig in diesen Tholos zu geraten, was ihre Gemüter beeinträchtigen könnte, denn die Skelette, die dort liegen, seien echt.
Tatsächlich ist die Tür mit einem Stein, den ein erwachsener Fuß leicht verschieben kann, dagegen gesichert, von Wind oder Kind geöffnet zu werden und ebenso tatsächlich liegen hinter dieser Tür sechs keineswegs vollständige, jedoch eindeutig menschliche Skelette halbkreisförmig mit grinsenden Schädeln nebeneinander.

Schön hatten sie’s ja, denkt es in mir unwillkürlich, ehe ein anderer Hirntheil flüstert, dass auch auf der Peloppones niemand gern stirbt.
Warum, fragt das Gehirn als nächstes, liegen die da? Gab’s nur für die keinen Sarg oder war das so üblich? Ist’s von den Ausgräbern so gewollt, um Authentizität zu vermitteln, soll’s gar ein Memento Mori der Bronzezeit sein? Oder war bloß das Museum schon voll?
Da ich keine Antworten fand, blieben die Sechs fortan bei mir.
Nicht als Spuk oder Alptraum; sie begleiten mich freundlich-gelegentlich, wenn ich wach träume und drängen mich zu Gedanken über die Frage, wer sie waren und was sie sagen würden, wenn sie wüssten, dass ich sie tot gesehen habe? Denn als sie lebten, dachten sie zweifellos daran, was sein würde, wenn sie gestorben sein werden.
Ein Gedankenfaden, der dazu führt, wenn wir ihn fortspinnen wollen, dass wir uns auf eine Seite schlagen müssen. Die der Toten oder unsere, und bitte: Kommen Sie mir nicht mit dem Totschlagargument! Natürlich sind die sechs Skelette tot und pfeifen drauf.
Aber können Tote pfeifen? Hätten sie als noch Lebende gewusst, dass ihre letzte Ruhestätte einst ausgegraben und ihre knöchernen Reste damit zur Schau gestellt würden (wenngleich mit Warnhinweis), wären Sie nicht pikiert oder gar erbost gewesen? Schließlich liegen sie dort nicht zum Spaß!
Man könnte strafmildernd zu unseren Gunsten einwenden, dass die sechs Toten weder an eine Auferstehung noch eine Wiedergeburt glaubten, sondern überzeugt waren, dass ihre Seelen in ein Schattenreich gelangen und für immer dort verbleiben würden – egal, was mit ihren Körpern geschieht.
Dennoch ist es unsere – der Lebenden – Sicht und Auslegung, das Einverständnis der Toten zu ihrer Zurschaustellung mangels Verweigerungsmöglichkeit vorauszusetzen.
In vielleicht gar nicht so ferner Zukunft sollte und wird es möglich sein, unsere eigenen toten Körper in der Umgebung, in der wir lebten, künftigen Generationen vorzuführen, um damit aus deren Sicht die Absurdität unserer Leben recht lebensnah zu demonstrieren. Und wir werden uns schwerlich dagegen wehren können. Wir werden den sechs Skeletten in Voudeni näher sein als unseren eigenen Nachkommen. Gut, dass wir das nie erfahren werden.